Die gemeinsame Vision zur europäischen Perspektive auf die Gesundheitspolitik verkündete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2020 in ihrer Rede zur Lage der Union: eine starke europäische Gesundheitsunion, die Kräfte bündelt und Potenziale nutzt. Synergieeffekte sollen unter anderem durch eine europäische Arzneimittelstrategie hervorgebracht werden, die Leitideen auf dem gesamten Lebenszyklus eines Arzneimittels umfasst: von der Forschung und Entwicklung bis hin zu einem frühen Zugang zu Innovationen für alle EU-Bürger. Eine wichtige Säule der Arzneimittelstrategie ist das EU-HTA. Nach jahrzehntelanger Vorarbeit ist nun Anfang dieses Jahres eine Verordnung für eine europäische Nutzenbewertung auf den Weg gebracht worden.
Worum geht es beim EU-HTA?
Die Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment, HTA) ist ein wissenschaftlicher und evidenzbasierter Prozess, der zuständigen Gesundheitsbehörden dabei hilft, die relative Wirksamkeit von Gesundheitstechnologien zu bestimmen.
Die Nutzenbewertung von Gesundheitstechnologien wie innovativen Arzneimitteln und Medizinprodukten entscheidet über den finanziellen Erfolg des Market Access der Produkte. In Deutschland bestimmt z.B. das Ausmaß des Zusatznutzens im Vergleich zur zweckmäßigen Vergleichstherapie für den pharmazeutischen Hersteller im AMNOG-Prozess den Spielraum für die Abschläge und damit die Erstattungsbeträge der Gesetzlichen Krankenkassen.
Zur Vorgeschichte: Eine übergreifende europäische Nutzenbewertung wird bereits seit den 1980er Jahren diskutiert.
2005 schlossen sich 35 nationale HTA-Institutionen in einem Netzwerk zusammen, um Arbeitsweisen auszutauschen und Bewertungsmethoden zu diskutieren. Es folgte die Förderung und Begleitung durch die EU-Kommission, die diese Initiative finanziell unterstützte. Die Kommission legte 2018 schließlich einen Vorschlag für ein EU-HTA-Verfahren vor, gegen das sich jedoch heftiger Widerstand regte. Vor allem Mitgliedstaaten, die wie Deutschland bereits über ein etabliertes HTA-Verfahren verfügten, lehnten den Kommissionsentwurf mit dem Hinweis ab, dass auf Besonderheiten nationaler Gesundheitssysteme stärker Rücksicht genommen werden müsse.
Konsentierter Gesetzesvorschlag: Die Nutzenbewertung wird europäisch!
Im Sommer 2021 einigten sich der Europäische Rat und das Parlament schließlich doch auf einen Gesetzesvorschlag zum EU-HTA-Verfahren. Dieser wurde im Dezember vergangenen Jahres angenommen. Mit Inkrafttreten der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung von Gesundheitstechnologien und zur Änderung der Richtlinie 2011/24/EU im Januar 2022 soll die Bewertung von Arzneimitteln ab 2025 nun schrittweise auf europäischer statt auf nationaler Ebene erfolgen.
Die Verordnung sieht hierfür die Einrichtung einer neuen „Koordinierungsgruppe der Mitgliedstaaten“ vor. Jedes EU-Land soll entsprechende, von Industrieinteressen unabhängige Vertreter, für die Koordinierungsgruppe entsenden, die Vorschriften und Methoden für die gemeinsame klinische Bewertung von Gesundheitstechnologien erarbeiten und Einigung in der Nutzenbewertung über die Ausgestaltung des Bewertungsprozesses schaffen. Konsens wird für eine intensivere EU-Kooperation in der Nutzenbewertung wesentlich sein. Auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ist in die Ausgestaltung der europäischen Nutzenbewertung involviert.
Die Methodik im EU-HTA soll auf internationalen Standards evidenzbasierter Medizin basieren und darf die derzeit noch angewendeten Standards der einzelnen Mitgliedsstaaten nicht unterschreiten. Die Methodik muss außerdem ausreichend Flexibilität besitzen, um die Ergebnisse der Nutzenbewertung in den unterschiedlichen Gesundheitssystemen sinnvoll zu übertragen.
Die ersten Bewertungen sollen bereits 2025 starten. Im Juni dieses Jahres trafen sich die Heads of HTA-Agencies Group (HAG), eine unabhängige Gruppe von Leitungen der von der EU-HTA-Verordnung betroffenen HTA-Organisationen in Köln. 41 Vertreter von HTA-Organisationen aus 13 EU-Mitgliedstaaten und zwei Vertreterinnen der EU-Kommission nahmen an dem internationalen Treffen teil. Gastgeber war diesmal das IQWiG und diskutiert wurde, wie die HTA-Organisationen der Mitgliedsstaaten die Kommission bei der komplexen Umsetzung unterstützen können.
Der Verordnungsentwurf ist das Ergebnis jahrelanger Verhandlung und vieler Kompromisse
Zukünftig werden große Teile des heutigen AMNOG-Dossiers, insbesondere Module 2,3 und 4, europäisch erstellt werden. Der aktuelle Zeitplan für die europäische Nutzenbewertung sieht eine schrittweise Einführung der HTA-Bewertung über einen Zeitraum von 5 Jahren vor.
Im Fokus stehen zunächst Onkologika und Advanced Therapy Medicinal Products (ATMPs), im nächsten Schritt folgen Orphan Drugs. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung sollen neue Arzneimittel der Indikationen AIDS, neurodegenerative Erkrankungen, Diabetes, Autoimmunerkrankungen und weitere Immunschwächen und Viruserkrankungen in das EU-HTA aufgenommen und nach acht Jahren schließlich alle anderen Therapien berücksichtigt werden. Der Entwurf sieht für die Bewertungsentscheidung grundsätzlich Konsens vor. Es wird jedoch explizit betont, dass den Mitgliedsstaaten eigene Zusatznutzen-Bewertungen im „Kontext ihres spezifischen Gesundheitssystems“ möglich bleiben.
Für Medizinprodukte soll drei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung eine Auswahl anhand bestimmter, in der Verordnung definierter Kriterien erfolgen. Die Bewertung hinsichtlich ökonomischer, sozialer und ethischer Aspekte sowie die Preisverhandlungen und Erstattungsentscheidungen werden jedoch weiterhin der Verantwortung der Mitgliedsstaaten obliegen.
Ambitionierte Ziele des EU-HTA: Sind ein früher und harmonisierter Zugang zu Innovationen, die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und finanzielle Stabilität der Gesundheitssysteme vereinbar?
Im Gegensatz zu der europaweit einheitlichen Zulassung von Arzneimitteln durch die Europäische Arzneimittelagentur EMA wurden Nutzenbewertungsverfahren wie das AMNOG überwiegend auf nationaler Ebene durchgeführt. Dies führte auf europäischer Ebene zu ungleichen oder verzerrten Marktzugangsbedingungen, da es Divergenzen in den nationalen HTA-Verfahren in Bezug auf die Akzeptanz bestimmter Endpunkte und die Datenbasis gibt. Die Folge ist, dass bestimmte Arzneimittel in manchen Mitgliedsstaaten der EU für Patienten nicht zur Verfügung stehen.
Für Patienten soll eine stärkere europäische Zusammenarbeit bei der Bewertung von Arzneimitteln dazu beitragen, eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung durch den frühen und europaweit standardisierten Zugang zu innovativen Produkten zu gewährleisten. Die Industrie soll dabei unterstützt werden, die Forschung und Entwicklung von vor allem denjenigen Technologien voranzutreiben, die einen echten Zusatznutzen für Patienten in Europa haben.
Auf der Ebene der Hersteller ist das Ziel der Verordnung eine Vereinheitlichung in der europäischen Beratung und klinischen Bewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Gerade für kleinere Unternehmen soll diese Harmonisierung den administrativen Aufwand reduzieren, da die Arzneimittelhersteller Dossiers zur Studienevidenz nur einmal auf EU-Ebene einreichen müssen.
Gesamtwirtschaftlich gesehen, haben die Gesetzgeber für den Marktzugang zu neuen Technologien auch den Ausgleich zwischen der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in Europa und der Sicherung der finanziellen Stabilität der einzelnen Gesundheitssysteme innerhalb der EU im Blick.
Trotz drei Jahre andauernder Beratung und konsentierten Verordnungswortlauts bleiben viele Fragen offen.
Fraglich ist beispielsweise, wie die Verfahrensabläufe auf europäischer und nationaler Ebene zeitlich aufeinander abgestimmt werden, ob und in welchem Ausmaß zusätzliche Dossiers auf nationaler Ebene eingereicht werden müssen und welche Anforderungen für die Methodik dieser einzureichenden Daten gelten. Dies betrifft beispielsweise die Kriterien, nach denen die zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt wird und deren Erforderlichkeit für Orphan Drugs. Inwieweit die unterschiedlichen Versorgungsstandards der Länder Berücksichtigung finden werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls offen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die nahtlose Überführung der EU-HTA-Ergebnisse in den deutschen Kontext und die Bewertung durch den G-BA, damit die operative Vorbereitung auf die Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband stattfinden kann.
Fazit und Ausblick
Die oben genannten Unsicherheiten haben einen Einfluss auf die Planungssicherheit für pharmazeutische Unternehmer, sowohl in der Strategieentwicklung wie auch in der organisatorischen Aufstellung von Market Access, Medical und Regulatory Affairs.
Je enger die Methodik sich an den deutschen Standards orientiert, desto wichtiger wird das europäische HTA für die Erstattungsbetragsverhandlungen in Deutschland sein. Pharmazeutische Unternehmen müssen sich nach den kürzlich beschlossenen AMNOG-Reformen im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz nun auch auf die neue europäische Nutzenbewertung vorbereiten. Eine ausführliche Analyse der denkbaren Szenarien ist notwendig, um schnell auf regulatorische Entwicklungen zu reagieren und das AMNOG mit dem europäischen HTA-Verfahren in Einklang zu bringen. Dem Gesetzgeber kommt nun die wichtige Aufgabe zu, die nationale Gesetzgebung so anzupassen, dass Kompetenzgerangel und Dopplungen minimiert werden und EU-HTA-Ergebnisse sinnvoll in den deutschen Versorgungskontext überführt werden können.