EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits in ihrer Rede zur Lage der Union im September 2020 die Gründung einer europäischen Gesundheitsunion angekündigt. Dies geschah in Folge der Corona-Pandemie, um in Zukunft besser auf grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren reagieren zu können. Zentrale Initiativen der Gesundheitsunion umfassen eine abgestimmte Krisenvorsorge und -reaktion, die Implementierung einer Arzneimittelstrategie zur Modernisierung patientennaher Forschung und den europäischen Plan zur Krebsbekämpfung.
Ein wesentlicher Bestandteil und entscheidend für die Umsetzung dieser Initiativen, ist der europäische Gesundheitsdatenraum, European Health Data Space (EHDS), der Anfang Mai von der Europäischen Kommission auf den Weg gebracht wurde. Dieser ist einer von zwölf Datenräumen, mit denen die Kommission den Datenaustausch in der EU erleichtern will. Das bereits Ende Februar dieses Jahres vorgestellte Datengesetz bildet den Rechtsrahmen für den künftigen „Datenbinnenmarkt“.
Die Einführung und Weiterentwicklung des EHDS zielt dabei insbesondere auf folgende Bereiche ab:
- Infrastruktur und Technologie: Mit Hilfe der Harmonisierung sollen Leistungen in Zukunft europaweit ermöglicht werden, also z.B. die Einlösung von Rezepten in jeder Apotheke des EU-Auslandes.
- Interoperabilität und Datenqualität: Der Austausch und die Nutzung von Gesundheitsdaten sollen mit Hilfe von EU-weiten Standards legal und länderübergreifend möglich sein, ohne an Qualität einzubüßen.
- Definition der Governance: Regeln für eine effiziente europäische Zusammenarbeit der Verwaltungen der Mitgliedsstaaten sollen entwickelt werden.
Der europäische Gesundheitsdatenraum soll also einen effizienten Austausch und direkten Zugriff auf unterschiedliche Gesundheitsdaten ermöglichen, z.B. elektronische Patientenakten, Genomikdaten und Daten aus Patientenregistern. Die Daten sind sowohl für die Primärnutzung in der Gesundheitsversorgung als auch für die Sekundärnutzung in der Gesundheitsforschung und Politikgestaltung vorgesehen. Die Primärnutzung seiner Daten soll der Patient jederzeit über ein interoperables Format selbst managen können, also selbst darauf zugreifen oder Dritten den Zugriff gewähren oder verweigern können. Dies betrifft beispielsweise Rezepte, Laborergebnisse, Entlassberichte und Impfnachweise.
Für die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten in anonymisierter oder pseudonymisierter Form muss zunächst ein Antrag bei den Zugangsstellen für Gesundheitsdaten gestellt werden. Diese Zugangsstellen müssen in jedem Mitgliedsstaat etabliert und alle Gesundheitsdienstleister mit ihr angeschlossen werden. Neben den geltenden Datenschutzbestimmungen ist keine weitere Einwilligung durch Patienten geplant. Außerdem soll bei der Nutzung der Daten nicht zwischen öffentlichen Instituten oder privaten Unternehmen unterschieden werden. Die Datenabfrage wird lediglich abgelehnt, wenn sie auf Werbe- oder Vermarktungszwecke abzielt.
Die Infrastruktur für den grenzüberschreitenden Austausch soll von den nationalen Kontaktstellen eingerichtet werden und den Namen „HealthData@EU“ tragen.
Vorteile des EU-Gesundheitsdatenraums
Warum der EU-Gesundheitsdatenraum für die Verbesserung der Versorgungs- und Behandlungsqualität so wichtig ist, wird an alltäglichen Szenarien deutlich, wie am Beispiel eines europäischen Patienten, welcher nach einem Notfall in Deutschland behandelt werden muss. Durch den EHDS könnte man unkompliziert über eine europäische Patientenakte an dessen Vorerkrankungen, aktuellen Medikamentenplan und ältere Arztbriefe gelangen, um doppelte Untersuchungen zu vermeiden, wichtige Informationen sofort zur Hand zu haben und eine nahtlose Weiterbehandlung im Herkunftsland zu ermöglichen. Neben der Kostenersparnis lässt sich also die Behandlungsqualität konkret durch die Vermeidung von Ein- oder Umstellungsproblemen bei Medikamenten, zeitlicher Verzögerungen, fehlender Kenntnis und Unsicherheiten verbessern.
Ein weiterer Vorteil wird am Beispiel Seltener Erkrankungen deutlich, von denen auf nationaler Ebene nur wenige Menschen betroffen sind. Daher wurde eine EU-Onlineplattform für Rare Diseases eingerichtet, über die Daten zu Diagnose, Behandlungsverläufen und Versorgung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen gesammelt und der Fragmentierung von Patientendaten entgegengewirkt werden soll. Der EHDS hilft nun nicht mehr nur Patienten mit Seltenen Erkrankungen, sondern allen Europäern, indem gesundheitsbezogene Daten grenzüberschreitend zusammengefasst und genutzt werden können. Patienten können dann von Entwicklungen aus anderen Ländern profitieren, in dem z.B. Tumorboards, wie es sie in allen größeren Kliniken gibt, ermöglichen, spezielle Krebsfälle international zu besprechen.
Offene Regulatorische Herausforderung: Interoperabilität der Systeme, Datenschutz und nationale Umsetzung
Bevor die Vorteile des EHDS für die Gesellschaft nutzbar werden, müssen zwei große Hürden überwunden werden. Zum einen muss die Interoperabilität der Daten durch die Erfassung nach gleichen Schemata sichergestellt werden. Zum anderen muss ein EU-weiter Verhaltenscodex als Basis für einen gemeinsamen Datenraum zugrunde liegen, denn anders als in anderen Bereichen hat die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) im Gesundheitssektor bisher nicht für mehr Einheitlichkeit gesorgt. Zwar gibt sie einen allgemeinen Rahmen zur Nutzung und Erhebung von Gesundheitsdaten vor, jedoch ermöglicht sie den EU-Staaten eine unterschiedliche Auslegung durch den Erlass von Vorschriften auf nationaler Ebene, v.a. im Bereich der Forschung.
Aus diesem Grund ist es erforderlich, für ein europäisches Governance-Modell einen EU-weiten Verhaltenscodex zu erschaffen. Also einen „code of conduct“ für die primäre und sekundäre Verwendung von Gesundheitsdaten, der das Eigeninteresse der Bürgerinnen und Bürger stärkt und sie ebenso wie öffentliche und industrielle Forscher darüber informiert, welche rechtlichen Grundlagen für sie beim Umgang mit Gesundheitsdaten gelten.
Die effizientere gemeinsame Nutzung wertvoller Gesundheitsdaten wird unsere Gesundheitssysteme in Zukunft erheblich verbessern, wenn Vertrauen, Ethik und Sicherheit angemessen sichergestellt werden. Bis 2025 sollen die Grundlagen für den Europäischen Gesundheitsdatenraum vorliegen.